Institut für Praxis der Philosophie e.V. Darmstadt (IPPh)

Kopfgrafik

Die Schule der Weisheit

 

keyserling

Die Schule der Weisheit wurde 1920 in Darmstadt von Hermann Graf Keyserling (geb. am 20. Juli

1880 in Könno, Livland) gegründet. Keyserling, der philosophiehistorisch zur breiten Strömung der Lebensphilosophie gehört, gab mit seiner durch zahlreiche Reisen inspirierten Kulturphilosophie weitreichende Impulse zur Völkerverständigung, förderte den interdisziplinären Dialog und rief in kritischer Besinnung auf die zunehmende Technisierung und Intellektualisierung der europäischen Lebenswelten zur kulturellen Erneuerung auf.

 

Keyserling war 1918 nach Deutschland emigriert, mit seinem „Reisetagebuch eines Philosophen“ bekannt geworden und folgte dem Ruf des ehemaligen Großherzogs Ernst Ludwig von Hessen, im Anschluss an die Künstlerkolonie in Darmstadt eine Art Philosophenkolonie zu gründen. Eine Ansiedelung bedeutender Philosophen in Darmstadt erschien Keyserling aber ebenso wenig sinnvoll wie eine Anknüpfung an die Tradition akademischer Philosophie. Er wollte neue, andere Methoden des philosophischen Lehrens und Lernens anbieten. Die leitende Idee seiner Schule der Weisheit war schon in der Bezeichnung enthalten: die Weisheit. Diese kann weder durch systematisches intellektuelles Lernen erworben noch durch spezialisiertes Können und isolierte Wissenspflege vermittelt werden.

 

Die Schule der Weisheit distanzierte sich von Kirche und Universität, aber auch von der Erziehungspraxis herkömmlicher Schulsysteme oder der Erwachsenenbildung. Philosophie sollte nach Keyserling in der von ihm entfalteten Lehre vom Sinn als Orientierung zur Selbstverwirklichung im konkreten Leben fruchtbar gemacht werden. Da hierfür aber nicht Können, Wissen oder Glauben im Vordergrund standen, bedurfte es eines besonderen Rahmens. So verstand sich die Schule der Weisheit, lange bevor sich in den 1980er Jahren die Philosophischen Praxen konstituierten, bereits als unabhängige, philosophische Institution, die von der ethischen Forderung nach einem ganzheitlich bestimmten Mensch-Sein getragen war. Mit schriftlichen, mündlichen und praktischen Wirkungsformen, zu denen neben „orchestrierten“ Tagungen auch individual-philosophische Gesprächsberatung und Exerzitien gehörten, wollte Keyserling die Philosophie ihrer ursprünglichen Bedeutung gemäss wieder Weisheit werden lassen. Mit diesem Impuls ging er als bemerkenswerte, aber auch umstrittene Integrationsfigur in die Geistesgeschichte des 20. Jahrhunderts ein.

 

Zur materiellen Trägerschaft der Schule der Weisheit rief Keyserling die Gesellschaft für Freie Philosophie ins Leben. Im November 1920 erfolgte die offizielle Gründung der Schule der Weisheit mit einer Eröffnungstagung in Darmstadt. Die regelmäßig veranstalteten Jahrestagungen zogen eine breite Interessentenschaft an. Mit der ‚Orchestrierung‘ von Vorträgen führender Zeitgenossen aus Wissenschaft, Politik und Wirtschaft ließ Keyserling ein eigens ausgewähltes Grundthema aus verschiedenen Perspektiven darstellen. Die Redner sollten wie die Instrumente im Orchester eine ‚Symphonie des Geistes‘ vorführen, in der jede Stimme ihren eigenen Wert hat und zugleich zum Ganzen wesentlich beiträgt. Neben den Jahrestagungen unter Mitwirkung von Max Scheler, C.G. Jung, Hans Driesch, Leo Frobenius, Albert Apponyi, Nicolai Arseniew, Friedrich Gogarten, Leo Baeck, Richard Wilhelm, Ernst Troeltsch, Leopold Ziegler u.v.a.m. fanden in der Schule der Weisheit Lehr- und Zwischentagungen statt sowie eine Tagore-Woche mit dem indischen Dichter Rabindranath Tagore.

Die zweite, weniger öffentlichkeitsorientierte Wirkungsform bestand in der individuellen Förderung des Einzelnen, die in persönlichen Gesprächen und einer philosophischen Lebensberatung durch Keyserling kultiviert wurde.

Zur Vertiefung fanden ferner regelmäßig Übungen und eigens entwickelte Exerzitien statt, die von dem Philosophen und Sinologen Erwin Rousselle durchgeführt wurden. Er stellte morgen- und abendländische Asketik vor und leitete Konzentrations-, Entspannungs-, Bewegungs- und Meditationsübungen an. Die eigentlichen Exerzitien verliefen in kleinem Kreis in völliger Abgeschiedenheit nach streng vorgeschriebenen Regeln.

Mit diesen Wirkungsformen wurde die Schule der Weisheit schon zu Beginn der 1920er Jahre eine feste Institution im Geistesleben der Weimarer Republik. Keyserlings gesamtes philosophisches Schaffen stand nach 1920 unter der leitenden Idee der Schule der Weisheit, und als ihr spiritus rector unternahm er zahlreiche Vortragsreisen innerhalb Europas und in Nord- und Südamerika.

 

Zu Beginn der 1930er Jahre setzte Keyserling sich in politischen Artikeln kritisch mit dem aufkommenden Nationalsozialismus auseinander. Die Nationalsozialisten schalteten seine öffentliche Wirksamkeit systematisch aus. Dazu gehörten Rede-, Publikations- und Ausreiseverbote, Hetzkampagnen, Ausbürgerungsversuch, Hausdurchsuchungen und Beschlagnahmungen. Die Schule der Weisheit musste ihre äußeren Aktivitäten einstellen. Nach dem Krieg strebte Keyserling in Innsbruck ihre Wiederbelebung an. Er starb am 26. April 1946, kurz vor der geplanten Eröffnungstagung.

 

 

Der Nachlass Hermann Graf Keyserlings ist Eigentum der Stadt Darmstadt und befindet sich als Depositum in der Universitäts- und Landesbibliothek Darmstadt.


 

Literatur über Keyserling und die Schule der Weisheit

(Auswahl mit weiterführenden Literaturhinweisen):

Gahlings, Ute: Sinn und Ursprung. Untersuchungen zum philosophischen Weg Hermann Graf Keyserlings.

Academia Hochschulschriften Philosophie, Bd. 3. St. Augustin: Academia Verlag 1992.

 

Gahlings, Ute: Hermann Graf Keyserling. Ein Lebensbild.

Darmstädter Schriften, Bd. 68, hg. i.A. des Magistrats der Stadt Darmstadt, Kulturamt.

Darmstadt: Justus von Liebig Verlag 1996.

 

Gahlings, Ute: Hermann Graf Keyserlings Schule der Weisheit.

In: Prima Philosophia. Bd. 9, Heft 4 (Oktober-Dezember), 1996, S. 419-433, 477.

 

Gahlings, Ute: ‚An mir haben die Nazis beinahe ganze Arbeit geleistet‘. Über den Umgang der Nationalsozialisten mit Hermann Graf Keyserling.

In: Frank-Lothar Kroll (Hg.): Deutschsprachige Autoren des Ostens als Opfer und Gegner des Nationalsozialismus. Beiträge zur Widerstandsproblematik. Berlin: Duncker & Humblot 2000, S. 47-74.

 

Gahlings, Ute /Jork, Klaus (Hg.): Hermann Graf Keyserling und Asien. Beiträge zur Bedeutung Asiens für Keyserling und seine Zeit. Edition Vidya 2000.

 

Gahlings, Ute / Monteiro, Américo: Hermann Graf Keyserling: A Escola da Sabedoria, Keyserling e Portugal. Estudos de Ute Gahlings e Américo Monteiro. Hg. v. Américo Monteiro. Coimbra, Portugal: Centro Interuniversitário de Estudos Germanísticos 2003.

 

Gahlings, Ute: Teekond iseenda juurde. Sissejuhatus Filosoofi reisipäevikusse.

Ins Estnische übersetzt von Tolkinud Kairit Kaur.

In: Akadeemia. Eesti Krijanike Liidu kuukiri Tartus. 15. Jahrgang, Nr. 9 (174), Tartu (ehem. Dorpat, Estland) 2003, S. 1818-1843.

 

Gahlings, Ute: „Das Reisetagebuch eines Philosophen“. Nachwort zur Neuausgabe.

In: Hermann Graf Keyserling: Das Reisetagebuch eines Philosophen. St. Goar: Otto-Reichl-Verlag 2004 (im Druck).

 

Gahlings, Ute: Hermann Keyserling – ein Lebensphilosoph. Zu einem Werk zwischen Erkenntnistheorie, Kulturkritik und Metaphysik.

In: Jahrbuch für Lebensphilosophie, Bd. 1. München: Albunea Verlag 2005, S. 133-150.